Stuttgarter
Zeitung
28.02.2009 Seite 9
Von Johanna Eberhardt
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"Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind
. . ."
Weggefährten erinnern an die Dichterin Hilde Domin
- und erzählen mit Humor von kleinen Eitelkeiten und überfüllten
Postkarten
Vor drei Jahren ist die Dichterin Hilde Domin im Alter von 96 Jahren gestorben.
Nun haben einige ihrer noch immer zahlreichen Verehrer zur Feder gegriffen.
Unter dem Titel "Unerhört nah" schildern sie ihre Erlebnisse
mit der großen Dame - und kratzen ein wenig am Dichtersockel.
Für ihre Freunde war die zierliche, quirlige Dichterin mit der hellen
Stimme und den bis ins hohe Alter hellwachen Augen nur "die Hilde"
oder auch "Hildchen". Bei großen Kulturereignissen in
ihrer Heimatstadt Heidelberg gehörte sie jahrzehntelang zum festen
Inventar. Selbstverständlich saß sie dann ziemlich weit vorn;
gern neben dem noch ein paar Jahre älteren und nicht minder berühmten
Philosophen Hans-Georg Gadamer - was dem, wie man öfter hörte,
gar nicht besonders behagt haben soll.
Gleich ihr erster Gedichtband "Nur eine Rose als Stütze",
erschienen 1959, hat die Lyrikerin, die kurz zuvor mit ihrem Ehemann,
dem Kunsthistoriker Erwin Walter Palm aus dem Exil in Santo Domingo nach
Europa zurückgekehrt war, bekannt gemacht. Von da an wurden ihre
Verse vielen eine wichtige Stütze. "Seit 45 Jahren lese ich
ihre Gedichte, zuerst abgeschrieben mit der Hand von einem Freund, in
seinen Briefen aus Hamburg beigelegt und auf unsere damalige Weise verbreitet:
mit der Schreibmaschine, mit den fünf Durchschlägen für
andere. Ihre Gedichte waren und bleiben mir Lebensmittel, unverzichtbare",
schreibt Friedrich Schorlemmer, Pfarrer und Mitbegründer des Demokratischen
Aufbruchs in Leipzig, in dem gerade erschienenen Gedenkbuch "Unerhört
nah - Erinnerung an Hilde Domin".
In ihm hat Marion Tauschwitz, die Vertraute und letzte Mitarbeiterin der
Dichterin, Erinnerungen von mehr als 50 Freunden, Kollegen und Wegbegleitern
zusammengetragen. Auf gut 200 Seiten schildern die Autoren - vom Schriftsteller
Michael Buselmeier über die frühere Bundesvorsitzende der Grünen,
Manon Andreas-Grisebach bis zum CDU-Politiker Bernhard Vogel - ihre höchst
persönlichen, aber auch überaus charakteristischen Erlebnisse
mit der Dichterin - auf Reisen, am Telefon oder zu Hause in ihrem "Schlösschen"
am Heidelberger Graimbergweg. Die Leser erfahren dabei viel über
das nicht immer leichte, aber auch sehr erfüllte und aktive Leben
der "deutschen Dichterin jüdischer Herkunft", über
deren kleine und größere Eitelkeiten, die Egozentrik und das
Geltungsbedürfnis einer berühmten Dame.
Gerade die sehr nahen Freunde und Bekannten kratzen durchaus vernehmlich,
aber immer mit Humor und nicht ohne Belustigung, am Sockel des Domin'schen
Dichterdenkmals. So erfährt man einerseits von ihren "Hemmungen,
über Geld zu sprechen", andererseits aber auch von ihrer enormen
Durchsetzungskraft, wenn es darum geht (mit einem Sparticket der Bahn
in der Tasche) einen sicher nicht allzu gut verdienenden Taxifahrer am
Frankfurter Hauptbahnhof für die Fahrt nach Heidelberg auf einen
Hungerlohn herunterzuhandeln oder - wo auch immer auf ihren Reisen - das
schönste Zimmer im Hotel zu ergattern.
Gleich in der ersten Geschichte schildert eine Freundin, die sie mehrfach
nach Griechenland begleitete, wie sich die Schriftstellerin noch im entlegensten,
ärmlichen Dorf geschickt als Dichterin zu erkennen gibt, worauf sich
die im "Kafenion" versammelten Männer "wie auf ein
geheimes Kommando erheben und verneigen". Selbstredend dürfen
die betuchten Damen anschließend "den Kaffee nicht bezahlen
- weil wir aus der Fremde sind und etwas Besonderes".
Dass sie im Mittelpunkt stehen wollte, lieber selbst redete, als zuzuhören,
erzählen fast alle. "Ihre Postkarten schrieb sie zuweilen so
voll, dass die Wörter fast von den Rändern fielen und manchmal
schien es, als drohte auch ihr Leben von zu sagenden Wörtern überzuquellen
- ganz im Gegensatz zu ihrer Poesie, in der sie nur weniger Wörter
bedurfte, um das was zu sagen ihr Bedürfnis war, aufs Wort zu bringen",
schreibt ihr Dichterkollege Reiner Kunze.
Bernhard Vogel, einst Ministerpräsident in Mainz und ein langjähriger
Freund, erinnert sich, wie man 1985 nach der Verleihung der Zuckmayermedaille
an Ludwig Harig, bei der die Lyrikerin die Laudatio gehalten hatte, in
kleiner Runde in der Staatskanzlei zusammensaß. "Hilde Domins
Redefluss war kaum zu stoppen. Nach einer Stunde schließlich rief
Reich-Ranicki über den Tisch: Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, erwürge
ich Sie."
[Hilde Domin - ihre Freunde haben drei Jahre nach ihrem Tod ihre Erlebnisse
mit der Dichterin jetzt veröffentlicht.
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Stadtblatt
Amtsanzeiger
der Stadt Heidelberg
Nr.9 / 26. Februar 2009
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" Lesen Sie Gedichte
? "
Anthologie "Unerhört nah"-
55 Autoren berichten über ihre Begenungen mit Hilde Domin
Am 22. Februar 2006 starb die Dichterin Hilde Domin, Ehrenbürgerin
der Stadt Heidelberg, Trägerin des Preises “Literatur im Exil"
und des höchsten Ordens der Dominikanischen Republik, im 97.
Lebensjahr. Aus Anlass ihres 100, Geburtstages am 27. Juli 2009 ist eine
Anthologie mit Erinnerungen an Hilde Domin erschienen, herausgegeben
von ihrer langjährigen Mitarbeiterin Marion Tauschwitz.
In persönlichen SchiIderungen haben 55 Autoren ein facettenreiches
Bild der Lyrikerin gemalt, das am vergangenen Sonntag, dem dritten Todestag,
im DAI vorgestellt wurde, musikalisch umrahmt von Rolf Verres. Der Sammelband
ist “ein Kaleidoskop verschiedener Blickwinkel auf die Dichterin
und Privatperson, das zeigen will, wie .unerhört nah' uns die Erinnerung
an Hilde Domin ist", so Bürgermeister Dr. Joachim
Gerner.
Den Auftakt der streng alphabetisch geordneten Beiträge macht
Ruth Alexan-dridis mit einem Beitrag über Hilde Domin in Griechenland:
Ein Kaffeehaus in einem kleinen Dorf bei Monemvasia, Peloponnes- In ein
harmloses Gespräch mit den Alten des Dorfes platzt sie mit der Frage:
“Lesen Sie Gedichte?". Alexandridis zögert mit der
Übersetzung. “Denn ich vermute, diese Alten hier lesen nicht,
können es wahrscheinlich auch gar nicht. Aber Hilde drängt;
also frage ich. Da kommt eine ebenso verblüffende Antwort beinahe
wie im Chor: ,Wir haben hier auch einen berühmten Dichter, den Jannis
Ritsos', und sie summen sofort eine Melodie
von Mikis Theodoraids, der Texte von Ritsos vertont hat. Dann meint der
Papas (Pfarrer) zu Hilde gewandt: ,Sie schreiben wohl Gedichte, wir haben
gleich gemerkt, dass Sie etwas Besonderes sind.' Und ich sage darauf,
dass Hilde eine der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen ist. Da erheben
sich alle Männer wie auf ein geheimes Kommando und verneigen sich
Hilde zugewendet. Sie ist glücklich gerührt und meint: Man sagt,
die Griechen verehren ihre großen Dichter. Den Kaffee dürfen
wir nicht bezahlen. Weil wir ,Xeni', Fremde sind und etwas Besonderes.
Wir danken und in Hochstimmung fahren wir nach Hause."
Weitere Autoren sind Michael Buselmeier, Manon Andreas-Grisebach, Martin
Grzimek, Ulla Hahn, Franziskus Heere-man, Jakob Köllhofer, Letizia
Mancino, Romani Rose, Annette Schavan, Peter Spuhler, Frank-Walter Steinmeier,
Erwin Teufel, Rolf Verres, Bernhard Vogel, Beate Weber und viele andere.
Die Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner (Heidelberg) und Fritz
Schramma (Köln) sind mit Grußworten vertreten.
“Unerhört nah - Erinnerungen an Hilde Domin", herausgegeben
von Marion Tauschwitz, Kurpfälzischer Verlag Dr. Hermann Lehmann,
Heidelberg 2009, gebunden, 228 Selten, 38 Abbildungen, 14,90 Euro, ISBN
978-3-924566-33-3. Zu beziehen über den Buchhandel oder direkt
beim Verlag. Der Erlös des Buches kommt “Save me" zugute,
einem Netzwerk, das ankommenden Flüchtlingen ihren Start erleichtern
will. rie
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Rhein Neckar Zeitung
24. Februar 2009
Von Heribert Vogt
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Im Spagat zwischen Alltag
und Ruhm
Marion Tauschwitz stellte ihr Buch “ Unerhört nah" mit Erinnerungen
an die Heidelberger Dichterin Hilde Domin im DAI vor
“Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, erwürge ich Sie!" rief
Marcel Reich-Ranicki Hilde Domin zu, um deren nicht enden wollenden Redefluss
zu stoppen. Diese Szene, die man sich gut vorstellen kann, hat sich 1985
anlässlich einer Preisverleihung im Weinkeller der Mainzer Staatskanzlei
abgespielt. Bernhard Vogel, früherer Ministerpräsident zweier
Bundesländer, schildert die Anekdote in seinem Erinnerungstext an
Hilde Domin mit dem Titel “Nicht müde werden". Unter Gelächter
las Vogel ihn nun im voll besetzten Heidelberger DAI, wo der von Marion
Tauschwitz herausgegebene Erinnerungsband “Unerhört nah"
vorgestellt wurde. Er versammelt insgesamt 55 Stimmen zu Hilde Domin,
acht Autoren trugen ihre Beiträge vor.
Nicht die Dichterin, sondern der Mensch Domin stand bei dieser Präsentation
naturgemäß im Zentrum, denn Marion Tauschwitz hatte die Autoren
um die Beschreibung ihrer persönlichen Begegnungen mit Hilde Domin
gebeten. Und da gab das Terrain zwischen den Niederungen des Alltags und
den Höhen des literarischen Ruhms natürlich ein dankbares Spannungsfeld
her, so dass es in den acht vorgetragenen Beiträgen oftmals lustig
zuging.
Das begann schon in der Einführung von Kulturbürgerneister Dr.
Joachim Gerner, der den Facettenreichtum der Dominschen Persönlichkeit
unterstrich und die Dichterin als “Kämpferin für Gerechtigkeit"
würdigte, aber auch ein wenig ihr “strategisches Zuspätkommen"
bei Veranstaltungen aufspießte. Es hat ja auch sein Gutes, wenn
eine Stadt in Erinnerung an die wohl wichtigste literarische Stimme
in ihren Mauern nicht in Ehrfurcht erstarrt.
Am ernsthaftesten ging noch Franziskus Heereman, Abt im Kloster Stift
Neuburg, in seinen Erinnerungen mit Hilde Domin um: Die feinen Nuancen
im Verhältnis der Dichterin jüdischer Herkunft zum christlichen
Glauben wurden hier deutlich.
Ruth Alexandridis und Ursula Ruthardt schilderten in ihren Beiträgen
gemeinsame Urlaubsaufenthalte mit Hilde Domin in Griechenland und im Tessin.
Dabei trat häufig die enorme Vitalität der Dichterin zutage,
aber auch ihre ausgeprägte Spontaneität und der nicht selten
komische Züge annehmende
Kampf mit dem zunehmenden Alter wurden thematisiert.
Dass diese Konstellation der Domin'schen Persönlichkeit auch anstrengend
sein konnte, wurde am deutlichsten in dem Beitrag von Manon Andreas-Grisebach,
die von 1981 bis 1983 Bundesvorsitzende der Grünen war. Als der wahrscheinlich
engsten Freundin Domins, die über 50 Jahre mit der Dichterin verbunden
war, stand es ihr wohl zu, unter anderem von deren Herrsch- und Ruhmsucht
zu sprechen.
Auch m den Ausführungen der früheren Heidelberger Oberbürgermeisterin
Beate Weber, die über ihre ganze Amtszeit von 1990 bis 2006 Hilde
Domin begleitet hat, fehlte die andere Seite der Dichterin nicht - Denn
sie schildert den verblüffenden Vorgang, bei dem Hilde Domin zwischen
1997 und 1899 fünf Jahre alter wurde - sie hatte sich eine kleine
Mogelei mit ihrer Altersangabe erlaubt.
Schließlich beschrieb auch Hilde Domins früherer Nachbar Clemens
Greve seine Begegnungen mit der Dichterin in deren Alltagsleben. Dieses
zeigte sieh bei der von Rolf Verres musikalisch umrahmten DAI-Veranstaltung
insgesamt mitunter in bizarren Formen. Aber dass Domin auch einen wahnsinnigen
Spagat zwischen ihrer kärglichen Existenz und ihrem literarischen
Ruhm schaffen musste, schien in dem Beitrag von Rolf Pflücke auf,
der sowohl für die ARD als auch für das ZDF langjähriger
Südamerika-Korrespondent war und der dem Dichtemamen Hilde Domin
noch in Kolumbien begegnete.
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